Das Hue und Hott in den Schulen – Kann es so weiter gehen?

Von | 13. Oktober 2022

Eine kurze Vorbemerkung

Der Anlass (nicht der Grund!) dieses Posts sind zwei Veröffentlichungen aus jüngster Vergangenheit, denen ich in Vielem zustimme und die viel (leider zu viel) thematisieren, was auch in meiner Wahrnehmung ein echtes Problem und in mancher Hinsicht auch einen unhaltbaren Zustand darstellt. In diesem Sinne nochmals Danke an die beiden Kollegen Christian Füller und Joscha Falck!

Zustimmung in vielen Punkten

Um diesen Post nicht ausufern zu lassen, möchte ich nicht all das viele Wahre wiederholen, was beide in ihren Artikeln erwähnen. @ciffi hat völlig recht, wenn er die Bürokratie und die Schattenseiten des Föderalismus nicht nur benennt, sondern brandmarkt. Wenn jedes Bundeland sein eigenes (nicht nur digitales) Süppchen kocht, ist das nicht nur volkswirtschaftlich unklug, sondern kontraproduktiv. Wenn man tiefer in diese Materie einsteigt, dann wird aus dem Eindruck, dass es bei Dingen wie der Implementierung der x-ten Lernplattform und der Entwicklung der y-ten Cloudlösung längst nicht mehr um die bestmögliche Bildung für die nächste Generation geht, sondern um zum Teil absurde Ideologie und Befindlichkeiten, eine mehr als scheinbare Gewissheit.
Auch die Situation, die @joschafalck in seinem Titel anspricht, deckt sich zu 100% mit meiner schulischen Erfahrung: Die Vorstellung von Tools für den Unterricht und deren „Schulung“ ist perfekt beschrieben mit der „auserzählten Geschichte“! Dabei wird auch deutlich, dass damit nicht der Fortbildungsbedarf an sich gemeint ist, sondern tatsächlich der eigentliche Schritt hin zu einer Transformation im Sinne einer Weiterentwicklung des Unterrichts. Denn genau dieser bleibt gegenwärtig (zu?) oft aus und führt so in eine Sackgasse.

Die unsägliche Schulstrukturdebatte

Ganz anders sieht es in meiner Wahrnehmung mit dem Subtext aus, den ich (vielleicht ja fälschlicherweise) aus beiden Posts herauslese: Immer wieder bin ich mit Forderungen konfrontiert, die nach einem radikalen Systemwechsel schreien, mit der Unmöglichkeit der Implementierung im Schulsystem der Gegenwart argumentieren und das System an sich im Untergang begriffen sehen.
Fakt ist: Das bayerische Schulsystem – und nur darüber kann ich dezidiert berichten – erweist sich in nahezu allen Studien als konkurrenzfähig. Was damit nicht gesagt ist: Dass ich es für optimal halte! Aber ich habe generell ein Problem damit, systemische Dinge vorzuschieben und zu kritisieren, diese aber monokausal zu behandeln. Denn dass andere schulische Systeme „besser“ sind (Was ist damit überhaupt gemeint? Allein das wäre ein eigener, ziemlich komplexer Post!), ist schwer zu beweisen. Was relativ leicht zu beweisen ist: Die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in vielen Bereichen sind in Bayern durchweg besser als in dem meisten anderen Ländern. (siehe z.B. INSM)..
Auch OECD-Studien (als es diese noch länderscharf gab 😉 ) belegten dies klar. Aber es geht mir dabei gar nicht um das Besser-Schlechter-Denken, sondern um eine Geisteshaltung, die mich immer wieder bewegt: Warum versucht man nicht, konstruktiv voneinander zu lernen? Warum darf etwas nicht sein, das aber offensichtlich so ist? Wenn Schülerinnen und Schüler in Bundesland x in gewissen Bereichen besser sind als bei uns, interessiert mich das nicht nur. Ich erachte es als meine Pflicht, hier zu fragen, wie ich diese „guten Ergebnisse“ auch erreichen kann – im Sinne der mir anvertrauten Kinder und Jugendlichen! Und genau das vermisse ich zu oft: Warum liest man in diesem Kontext dann so oft von „Kampfbegriffen“ wie „Selektion“, „unmenschlichem Druck“, die ebendiese Strukturen diskreditieren in einem Framing, das der Sache wahrlich nicht dienlich ist? Die Strukturdebatte geht am eigentlichen Thema vorbei und macht meiner Erfahrung nach nur Sinn, wenn man mit einem ernst gemeinten „open Mindset“ an diese herangeht. Ideologie im Ductus von „Gemeinschaftsschule ist die Zukunft“ oder „Wir brauchen eine Schule ohne XY“ ohne eine sachlich-wissenschaftlich fundierte Grundlage ist eben nicht mehr als eine solche!

Radikale Änderung nur durch Revolution – oh nein!

Ebenso häufig liest man davon, dass im gegenwärtigen System eben keine echte Transformation möglich sei. Meine Erfahrung ist auch hier eine andere: Es gibt sehr viele Kolleginnen und Kollegen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben und sich entsprechend verhalten: Fortbildungen und andere Qualifizierungsmaßnahmen finden sich allenthalben und werden auch gut angenommen. Das Problem, den nächsten Schritt hin zu einer echten Transformation des Unterrichts zu vollziehen, ist für mich keine Frage der Struktur oder des Systems: Es ist heute schon möglich, die kritisierten Strukturen so anzupassen, dass das Geforderte (4K, 21st CenturySkills, …) abgedeckt werden kann. Beispiele wären digitale Leistungsnachweise, formative Assessment, Projektarbeit außerhalb oder in offenen Räumen, Arbeiten im schuleigenen MakerSpace und so Vieles mehr. Für all das braucht es keine neuen Systeme (von denen übrigens kaum einer weiß, ob sie tatsächlich „besser“ sind, weil es sie ja noch nicht gibt), sondern ein Denken, das in der Schule vorort beginnt. Wenn sich die Schulgemeinschaft einig ist in der Umsetzung zum Beispiel der genannten Szenarien, ist viel mehr erreicht, als man zunächst glauben mag: Es braucht dazu nur Mut, Gemeinschaftsgeist und eine Kultur, die Transparenz und Offenheit nicht nur in schöne Worte kleidet, sondern vorlebt.

Mit dem arbeiten, was wir haben

Die Forderung nach radikalem Umdenken führt aber noch aus einem anderen Grund nicht zum Ziel: Egal, ob man nun eine radikale Revolution fordert oder an überholten Inhalten mit aller Macht festhalten möchte: Das Edu-Schiff ist permanent auf hoher See. Es ist schlicht unmöglich und macht gar keinen Sinn, der Crew – die es nunmal gibt und die alternativlos (Ich mag das Wort NICHT! 😉 ) ist – auf hoher See den Auftrag zu geben, ein neues Schiff zu bauen. Und genauso sinnlos ist es, das Ding nicht zu warten und zu pflegen! Denn beides führt unweigerlich zum gleichen Ergebnis: Die Crew geht baden!
Die Wirkung einer Forderung nach einer „Fokusverschiebung“ ist ebenso legitim wie gefährlich: Dass die Transformation unausweichlich und dringend erforderlich ist, zeigt sich immer deutlicher und ist Leuten, die sich damit auseinandersetzen, längst klar. Und jene, die diese Notwendigkeit nicht sehen, werden die „normative Kraft des Faktischen“ zu spüren bekommen 😉 …
Allerdings warne ich davor, davon zu sprechen, dass uns Tools (oder die „Toolifizierung des Unterrichts“) da nicht weiterbringen: Klar – und das spricht Joscha Falck auch an! -, die ersten Schritte müssen gemacht werden. Aber man darf den Kolleginnen und Kollegen nicht das Gefühl geben, dieser erste Schritt wäre nichts wert. Und genauso gefährlich ist es, den zweiten Schritt in diesem Stil (vehement) zu fordern. Denn in meiner Wahrnehmung resultiert daraus in der Fläche eine Überforderung, die zu Frustration, Unsicherheit, ja im schlechtesten Fall Perspektivlosigkeit („Was soll ich noch alles machen? Ich sehe kein Ende!“) führt und eben nicht zu einer Verbesserung/Weiterentwicklung des Unterrichts.

Versuch eines Fazits

Die Transformation ist im Gange und niemand kann es sich leisten, hier auf ein „Aussitzen“ zu hoffen und entsprechend zu agieren. Aber wir können es uns auch nicht leisten, unsere Kolleginnen und Kollegen zu überfordern („zu verheizen“). Stattdessen gilt es, behutsam und verantwortungsvoll zu agieren. Im Kleinen, im Mikrokosmos einer Schule ist schon sehr viel möglich. Es muss nur gewollt und ermöglicht werden. Noch wichtiger wäre es aber, dass das Ministerium (endlich!) Rahmenbedingungen schafft, die Verbindlichkeiten zulässt. Beispielsweise sind Datenschutz oder Urheberrecht noch immer nicht ausreichend gelöst, werden auf die Schulen verlagert oder bleiben nebulös. Noch viel gravierender ist die Frage, zeitgemäßer Prüfungsformate, die Kompetenzen nachweisen lassen, die tatsächlich 21st-Century-konform sind und sich jenseits von Reproduktion und Nürnberger Trichter bewegen.
Ich kenne viele Schulen, die hier Freiräume nutzen und sich dringend mehr Möglichkeiten und Rechtssicherheit seitens des Dienstherrn wünschen. Das Problem dabei: Statt sich an den etablierten Standards zu orientieren und den Schulen einen praxisnahen Rahmen an die Hand zu geben, baut gefühlt jede Behörde ihre eigene Cloudlösung mit dem x-ten Messenger und dem y-ten Dropbox-Clone, um irgendwelchen Datenschutz-Schimären hinterher zu hecheln, während die Jugendlichen munter ihre Zeugnisse in ihrer Insta-Story sharen. 😉
Man würde sich wirklich wünschen, dass einerseits die Realitäten und ihre Möglichkeiten an den Schulen stärker Berücksichtigung finden und andererseits fernab von Ideologie und Pseudo-Fürsorge in den zuständigen Behörden der dringende Reformbedarf antiquierter Relikte gesehen und angegangen wird.