Vorbemerkung und Ausgangslage:
Durch Sebastian Schmidt und viele weitere hier bin ich seit nunmehr drei Jahren Teil der Bildungs-Community hier und bereue nicht einen Tag davon. Die Loblieder auf Twitter als dynamischstes und effektivstes Fortbildungsinstrument im Bildungsbereich sind berechtigt und keineswegs übertrieben. Allerdings stelle ich nach nunmehr drei Jahren einen Trend fest, der mir zutiefst zuwider ist und gegen den ich mich mit aller Macht zu stemmen versuche…. um dann festzustellen, dass ich an meinen eigenen Ansprüchen scheitere!
1. Die Meta-Diskussionen und Meta-Posts
Damit mich niemand falsch versteht: Ich nehme niemandem seine Beiträge zum (Über-)Thema “Überlegungen zur digitalen Transformation im Bildungsbereich” übel (Das ist selbst so einer!). Es geht mir auch nicht darum, deren Existenzberechtigung zu bestreiten. Vielmehr regen diese Überlegungen zum Nachdenken an und stehen oft am Anfang eines Prozesses, der dann das eigentliche Ziel ins Auge fasst und im Idealfall realisiert. Es geht mir darum, dass dies nur der erste Schritt sein darf, der nur dann sinnvoll ist, wenn ihm der zweite, nämlich das Konkrete zur Umsetzung folgt. Und genau hier sehe ich momentan einen Punkt erreicht, der tatsächlich kritisch werden könnte: Selbst wenn das Bewusstsein und von mir aus auch eine – völlig überzogene und overhypte – Mehrwert-Diskussion erzeugt bzw. geführt wurde, muss als nächster Schritt ein anderer folgen: Den Protagonisten im Bildungsumfeld Unterstützung an die Hand zu geben und diese für die Kinder spür-, erleb- und damit nutzbar zu machen.
Ein Kollege brachte genau in diesem Zusammenhang einen aktuellen Vergleich, der die Problematik meiner Meinung nach sehr gut zeigt:
Greta Thunberg und ihr Wirken sind ohne Wenn und Aber sinnvoll. Ihr Anliegen wird von niemandem, den man ernst nehmen könnte, bestritten. Aber das kann nur der erste Schritt sein. Im nächsten Schritt muss man von uns allen verlangen, dass jeder in seinem persönlichen Alltag, in seinem Mikrokosmos die Konsequenzen zieht. Für den Klimaschutz und gegen Artensterben sein, aber andererseits Flugreisen buchen und sich jedes Jahr neue Smartphones leisten – das passt nicht zusammen und ist heuchlerisch!
Genau so ist es in meinem Empfinden mit der Diskussion um “digitale Bildung”: Man kann gerne wie Burow die x-te Revolution im Klassenzimmer fordern. Man kann auch erste Schritte auf dem Weg mit markigen (Marketing-)Worten kommentieren. Aber das wird unser Problem nicht lösen. Ich gehe sogar vom Gegenteil aus und könnte dies in meiner Erfahrung auch beweisen.
Kurz: Es ist an der Zeit, zu liefern! Und zwar von uns allen! Zu liefern im Sinne von: Konkret werden, Anschauungsmaterial im Sinne von OER zu erschaffen, im Sinne der Sache die Dinge voranzutreiben, mitzunehmen, zu motivieren, die neuen Realitäten zu erklären und fassbar zu machen oder ganz einfach nur Erfahrungen zu teilen.
2. Die Schwarz-Weiß-Malerei
Dieses Phänomen ist leider wirklich keines, das als Charakteristikum dieser Diskussion angesehen werden könnte, aber das macht es leider nicht erträglicher:
Wer Tool x oder y verwendet, befindet sich auf dem Holzweg!
Aussagen wie diese sind es, die verabsolutieren und inhaltlich völlig wertlos sind. Ein Tool kann per se niemals schlecht oder gut sein. Was damit gemeint sein könnte: Ein Tool wird oftmals falsch eingesetzt und begünstigt Unterrichtsformen, die den Anforderungen der Gegenwart nicht gerecht werden. Dann muss man das aber auch so formulieren! Und das muss ich auch von Teilnehmern in diesem Umfeld auch erwarten können. Das hat wenig mit Wortklauberei oder Penibilität zu tun, sondern muss im Zeitalter von Populismus und Spalterei erwartet werden.
Unterricht der Zukunft muss 4K/SAMR/… umsetzen und ausschließlich auf das explorative Lernen setzen.
Dieses Zitat ist überspitzt formuliert und wurde meines Wissens (hoffentlich ) nie so zum Besten gegeben. Es beinhaltet aber eine Denkweise, die meiner Erfahrung in inzwischen 20 Jahren Lehrerdasein völlig widerspricht: Es gibt nicht DEN guten Unterricht. Es ist auch meiner Meinung nach völliger Nonsens und an der Lebenswirklichkeit (nicht nur der Kinder!) vorbei, zu glauben, exploratives, entdeckendes Lernen wäre die Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft. Eine Frage, die mir kürzlich ein Schüler stellte, als er im Unterricht etwas explorativ erarbeiten sollte, führte mir das Problem vor Augen:
“Ich verstehe, warum es für mich besser ist, wenn ich den Satz des Pythagoras selbst zu beweisen versuche. Allerdings schau ich mir zum Beispiel beim Wechseln meines Mountainbike-Reifens lieber vorher ein Video an, um die einfachsten Fehler und sinnlose Schäden von vornherein auszuschließen. Alles andere wäre wenig intelligent!”
Diesem Beispiel kann schwerlich widersprochen werden. Die banale und leider viel zu oft nicht ausgesprochene Erkenntnis: Es gibt eben nicht den Unterricht! Es geht darum zu lernen und die Persönlichkeit des Kindes weiterzuentwickeln. Oder um es mit dem Titel des meiner Meinung nach besten Buches in diesem Bereich zu sagen: “Mehr als 0 und 1!” Die Mischung macht’s. Ich für meinen Teil bin immer gut damit gefahren, einen Mittelweg zu finden, der nicht ins Extreme geht – auch wenn mir das nicht immer gelungen ist
3. Unser Bildungssystem ist tot
Die Tatsache, dass man Unsinn gebetsmühlenartig wiederholt, macht ihn nicht automatisch zu einer Wahrheit! Es ist richtig, wenn postuliert wird, dass sich in Schule sehr viel ändern muss, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. Und es ist ebenfalls richtig, dass Leitmedienwechsel und das Ende des klassischen Industriezeitalters im Schulalltag ihre Berücksichtigung finden müssen. Aber es ist ebenfalls richtig, dass alle hier gegenwärtig Handelnden diesem (alten) System entstammen und durch dieses in die Lage versetzt wurden, Probleme zu erkennen und kreative Lösungen zu finden. Dass das in besserer, effektiverer Form passieren könnte ist unstrittig. Wie diese tatsächlich aussehen könnte, allerdings bei weitem nicht! Das alleine aber führt nicht zu diesen Zeilen. Was ich für viel bedauerlicher halte, ist die Ignoranz und der faktisch nicht vorhandene Blick für die Realitäten:
Wir agieren in einem sterbenden System, das keine Zukunft haben wird und komplett neu aufgesetzt werden muss.
Diesen Satz halte ich für nicht weniger als verantwortungslos: Die Vorstellung, ein gesamtes System (das es so in seiner Ganzheit gar nicht gibt!) wie einen PC herunterfahren zu können und anschließend ein neues Betriebssystem ohne Altlasten aufzuspielen, ist weder machbar noch wünschenswert. Das neue System müsste faktisch dem alten klar überlegen sein und von allen Beteiligten akzeptiert werden. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen zeigt sich nicht selten, dass die Omnimetrie beinahe jedes Szenario legitimiert – um es böse zu formulieren!
Was mich aber viel mehr stört: Mit solchen radikalen Forderungen vergrämt man genau jene, die der Schlüssel für eine Weiterentwicklung des Systems sind: Die Lehrenden und alle damit in Zusammenhang stehenden. Denn ohne sie ins Boot zu holen, wird die Sache scheitern! Oder wie es ein Kollege weit treffender formuliert hat:
Wir müssen die Betroffenen zu Beteiligten machen!
Nur so – davon bin ich fest überzeugt – können wir die Schule so weiterentwickeln, dass wir unserer Verantwortung und unserer Aufgabe gerecht werden. Und genau das meint in meiner Meinung auch der Begriff “Digitale Transformation”. Etwas zu transformieren, heißt nicht, es zu beseitigen um es neu aufzubauen- weder etymologisch noch allegorisch.
Über meine Überlegungen stelle ich bei aller Kontroversität das bekannte Zitat:
“Auf Veränderungen zu hoffen, ohne selbst dafür etwas zu tun, ist wie am Bahnhof zu stehen und auf ein Schiff zu warten!”
Update 1: Grundsätzliche Fragen zum Post oben (Danke an Philippe Wampfler!)
Braucht es mehr digitale Praxis oder mehr Reflexion/Kritik dieser Praxis?
Ich glaube, dass beides unentbehrlich ist, aber das eine Voraussetzung für das andere ist. Ohne eine gewisse Erfahrung (=Praxis) kann ich nicht evident und haltbar veri- oder falsifizieren. Ich kenne niemanden, der unkritisch und gedankenlos Unterricht vorbereiten oder durchführen würde und dabei der Überzeugung ist, etwas Großartiges geschaffen zu haben ;). Genau das aber wird von gewissen Leuten mit plakativen Begriffen unterstellt. Und da wären wir beim eigentlichen Thema: Kritik und Reflexion sind von elementarer Bedeutung – aber die Wortwahl und der Ton machen die Musik. Mit elaboriertem Code und Benetton-Taktik bringe ich mich evtl. sehr gut ins Gespräch, generiere Aufmerksamkeit und kann mich profilieren. Aber mein Weg ist das nicht. Im Gegenteil: Ich kenne sehr viele KollegInnen, die damit entweder überfordert sind oder es als „didaktischen Nihilismus“ bezeichnen. Nochmals: Es ist eine Frage des Stils und der Kommunikation. Software pauschal zu diskreditieren und deren Nutzer als leichtfertig bis inkompetent erscheinen zu lassen, mag Aufmerksamkeit erzeugen – bei Betroffenen führt es in meiner Wahrnehmung bestenfalls zu Verunsicherung, im schlechtesten Fall zu Frust und Demotivation. Den moralischen Aspekt lasse ich an dieser Stelle außen vor! Wie kritische Betrachtung funktioniert, hat Gerhard Brandhofer in seinen Standardantworten eindrucksvoll gezeigt!
Kann die Arbeit mit digitalen Methoden ein problematisches System verbessern?
Gegenfrage: Welches System ist nicht problematisch, weist also keine Mängel auf? 😉 Ich denke, die Frage beantwortet sich aus dem Alltag heraus, denn die Methoden (ich verzichte bewusst auf das Adjektiv „digital“!) sind meiner Meinung nach ziemlich unabhängig vom System. Und da wären wir wieder bei der Schwarz-Weiß-Malerei: Wer ernsthaft behauptet, dass im gegenwärtigen System reformpädagogische Einflüsse keine (sogar tragende!!!) Rolle spielen, lebt entweder in einem völlig anderen Umfeld oder sollte prüfen, ob er nicht ideologisch argumentiert. Klar: Es gibt ihn noch, den klassischen Frontalunterricht, die Lehrerzentrierung, das Einzelkämpfertum, den Nürnberger Trichter! Aber es gibt eben auch sehr viele Beispiele, wo offener, handlungsorientierter, ganzheitlicher, schülerzentrierter und lerneffektiver Unterricht stattfindet. Dass dieser Anteil höher sein könnte und sollte, ist unstrittig. Aber unkritisch die These in den Raum zu stellen, ein anderes System (ich weiß immer noch nicht, was genau das sein soll! 😉 ) würde ALLES/VIELES besser machen, bedarf meiner Ansicht nach eines Beweises. Denn beinahe alles, was ich in den letzten Jahren in diesem Kontext an Forderungen gelesen habe, ist bereits jetzt (im bestehenden System!!!) möglich. Beispiele wären das „französische Handyverbot“ oder „kollaborative Leistungserhebungen“ im Sinne eines Formative Assessments. Richtig ist aber auch: Die aktuellen Prüfungsformate behindern die Entwicklung und sind für mich der Schlüssel für eine digitale Transformation. Was mich hier – und das klingt so formuliert wirklich skurril! – positiv stimmt: Die Prüfungsformate besitzen IMHO den höchsten „Disruptionsfaktor“ im schulischen Handlungsfeld, d.h. die technische Entwicklung und damit die Zeit wird hier Fakten schaffen, denen sich auch die härtesten „Bildungs-Taliban“ nicht werden entziehen können. 😉 Und genau dann werden jene Entscheidungen ad hoc erfolgen, die man jetzt reflektiv und mit Weitblick vorbereiten und sozial verträglich umsetzen könnte. Dieser Gedanke frustriert mich sehr!
Guter Artikel! E-Learning wird einfach immer wichtiger!