Ausgangspunkt
Gegenüber BR24 spricht sich der Vorsitzende des Bayerischen Philologenverbandes (bpv) gegen eine „allumfassende Digitalisierung aus und fordert „Pädagogik vor Technik“.
Allumfassende Digitalisierung – was soll das überhaupt sein?
Wenn jemand mal den Ausspruch getan hat, dass man keine Antworten auf Fragen geben soll, die ohnehin niemand stellt, dann hat er wohl Fälle wie diesen gemeint.
Denn kein mir bekannter Mensch in der Bildungsbranche fordert eine allumfassende Digitalisierung – schon allein deshalb, weil kein Mensch weiß, was damit objektiv gemeint ist.
Ich vermute mal:
- „alles mit einem Tablet machen“?
- „Hefte abschaffen“?
- „nur noch Videos drehen“?
- „Nur noch Videokonferenzen“?
- „Handschrift abschaffen“
- „Nur noch digital kommunizieren“?
- „Bücher abschaffen“?
- …
Der geneigte Leser gelangt schnell zu der Erkenntnis, dass diese Vorschläge nicht ernst genommen werden dürfen und allenfalls den Unterhaltungswert dieses Posts in zweifelhafter Form steigern (sollen).
Aber im Ernst: Wer würde so etwas fordern? Und dass die Technik immer der Pädagogik dienen muss, ist eine Erkenntnis, die weder sonderlich neu ist noch in irgendeiner Weise tiefgründig oder umstritten.
„89% der Lehrkräfte sind gegen zu viel Digitalisierung“
Wenn man davon ausgeht, dass diese Zahl in den Reihen der Kolleginnen und Kollegen des Gymnasiums erhoben wurde, könnte man sich die – zugegebenermaßen sarkastische – Frage stellen: Ja warum denn nur 89%? Was ist mit dem Rest? Wollen diese Leute gar das Eyetracking in jedem Klassenraum? Den gläsernen Schüler? Als Vertreter des Gymnasiums würde ich mir ernsthafte Sorgen machen, wenn über 10% in einem Kollegium unsere Kinder und Jugendlichen in einem solchen Umfeld sehen wollen 😉
Aber auch hier im Ernst: Wenn damit gemeint ist, dass der Prozess der digitalen Transformation in der Schule mit Augenmaß vollzogen werden muss, gilt das Gleiche wie oben: Das ist absolut unstrittig und das Mindeste, was man von verantwortungsvollen Pädagogen erwarten kann und muss.
Tablets erst ab der 8. Jahrgangsstufe
Diese Forderung erweist sich bei näherer Betrachtung als undifferenziert und ignoriert die Realität. Tablets sind per se – wie jedes andere Medium – weder gut für den Schüler bzw. die Schülerin noch schlecht. Sie sind zunächst schlicht und einfach ein Werkzeug, das man sinnvoll nutzen kann oder eben auch nicht. Hier liegt die Herausforderung für die Lehrkraft und ein Kollegium.
Böse Zungen könnten in dem Kontext gar behaupten, dass es genau diese Herausforderung ist, derer man sich durch Forderungen Marke „Tablets/Endgeräte raus aus Schulen“ nonchalant entledigen kann und in gewissen Kreisen auch will.
Die Realität ist eine andere: Tablets sind für Kinder und Jugendliche ein fester Bestandteil ihres Alltags. 86% der 10 bis 12jährigen besitzen in Deutschland ein Smartphone. Der Schluss liegt nahe, dass es bei Tablets bzw. dem Zugang dazu nicht anders sein wird. Das kann man gut oder schlecht finden – es bleibt eine Tatsache.
Und vor einer solchen Tatsache schulisch die Augen zu verschließen und die Kinder bis zum Alter von 14 Jahren damit allein zu lassen, kann nicht ernsthaft eine Alternative sein. Die Erfahrung zeigt: Das Tablet als Werkzeug sinnvoll eingesetzt, lässt die Kinder nicht nur sicherer damit umgehen, sondern bietet so vielfältige Möglichkeiten des Lernens, dass die Forderung beinahe grotesk anmutet.
Wer einmal verfolgt hat, wie eine 11jährige in einem selbst erstellten Erklärvideo den Aufbau eines Baumes erläutert und dieses anschließend stolz in ihr Eportfolio übernimmt, erlebt einen jener Momente, die nur Pädagogen erleben können und die sich lohnen…. mit dem – ohne das Ganze auch nur ansatzweise gegeneinander ausspielen zu wollen – beschrifteten Arbeitsblatt eines Baumes hat das Ganze weder von der Nachhaltigkeit („kumuliertes Wissen“) noch vom Lernerlebnis etwas zu tun 😉
Tablets und die Ablenkung
Ja, es stimmt: Tablets bieten – trotz vielfältiger technischer Möglichkeiten z.B. durch ein MDM- erheblich mehr Möglichkeiten der Ablenkung als zum Beispiel ein Heft. Aber auch hier ignoriert die suggerierte Aussage die Realität. Ein erfahrener Pädagoge mit enormem technischen Wissen sagte mir einmal:
Man kann pädagogische Probleme nicht technisch lösen!
Dies gilt auch hier und ich formuliere etwas überspitzt: Zu glauben, dass man mit einem Unterricht aus den 70ern mehr Aufmerksamkeit bei den Schülerinnen und Schülern generiert, ist genauso naiv, als würde man glauben, in den 70er wären Luft und Wasser sauberer gewesen ;). Kinder und Jugendliche lassen sich ablenken – das war so und wird immer eine Herausforderung bleiben. Mit dem Medium hat das eher weniger zu tun. Das Problem liegt eher auf Seiten der Lehrkraft, denn weder rechtlich noch technisch sind hier alle Geschichten auserzählt. Nur muss man das dann auch so benennen und nicht Probleme vorschieben, die wahrlich keine neue Erscheinung im Zeitalter der viel zu oft zitierten Digitalisierung sind.
Die Rolle rückwärts in Europa
Wer sich mit dieser Thematik etwas genauer beschäftigt, stellt sehr schnell fest, dass es um Korrekturen von Fehlentwicklungen, ja im besten Fall um gelebte Fehlerkultur handelt. Man hat zum Beispiel in Schweden rigoros echte Schulbücher abgeschafft und festgestellt, dass dies zu negativen Konsequenzen führt. Hier Korrekturen vorzunehmen ist nicht nur sinnvoll, sondern zwingend notwendig. Ebenso hat man in Holland Smartphones an Schulen wieder verboten (oder will das!). Beides ist bei uns kein Thema! Aber nicht etwa, weil wir so viel schlauer, besser, … wären, sondern weil sich auch diese beiden Fragen/Probleme bei uns gar nicht stellen. In Bayern ist man meilenweit davon entfernt, sämtliche Schulbücher nur noch digital einzusetzen. Stattdessen gibt es in allen mir bekannten Schulen meistens – wenn überhaupt – Hybridlösungen (gedrucktes und digitales Buch). Bei den Smartphones stellt sich die Sachlage noch einfacher dar: Man kann in Bayern Smartphones aus Schulen gar nicht mittels Verbot verbannen – denn die Geräte sind per se ohnehin längst verboten bzw. waren nie erlaubt. Ausnahmen muss die Lehrkraft genehmigen!
Die dringende Bitte um mehr Sachlichkeit
Anstatt oberflächlich Postulate aufzustellen, wär es wünschenswert im Sinne unserer Kinder und Jugendlichen, unaufgeregt, umsichtig und professionell an die Aufgabe heranzugehen. Als allgemeinbildende Schule hat man die uns anvertrauten jungen Menschen auf die Zukunft vorzubereiten. Tablets, früher Taschenrechner, … sind für sich einfach Werkzeuge, mit denen es umzugehen gilt. Sie sind eben nicht per se schlecht oder gut. Und wollen richtig verwendet werden. Das war die Aufgabe von Lehrkräften und das wird sie auch in Zukunft bleiben.
Es spricht in meiner Erfahrung nichts dagegen, einen Hefteintrag nach alter Schule zu machen oder dass ein guter Geschichtslehrer durch einen guten Vortrag seine Klasse mitreißt. Per se ist weder die eine noch die andere Methode gut oder schlecht.
Schlecht ist nur, wenn man Methoden von vornherein ausschließt und sich weigert, seinen pädagogischen Werkzeugkasten stets auf dem aktuellen Stand zu halten. Das ist dann tatsächlich unprofessionell und wird der kommenden Generation nicht gerecht!
Sehr gut geschrieben und inhaltlich ganz meine Meinung!
Philologen machen halt Philologen-Sachen…
Ich stimme dir voll zu. Eine kleine Gegenrede gibt es beim Thema Ablenkung. Hier bietet ein Tablet natürlich viel mehr Möglichkeiten als der Blick aus dem Fenster. Es ist die größte Sorge der Schüler:innen (!) unserer Schule, die es teilweise ja selbst erleben. Arbeitsaufträge können manchmal noch so motivierend sein, es ist eben motivierender, im Computerspiel schnell noch zwei Kronen abzugreifen etc. (und das sind Aussagen von Q12-ern) Das ist kein Argument gegen Digitalisierung, aber eine Gefahr, der man sich stellen muss.
Dieses erhöhte Risiko ist unbestreitbar. Nur: wer glaubt, dass sich dieses Risiko durch den Verzicht auf ein Tablet regulieren ließe, sollte die Präsenz von Smartphones im Klassenzimmer nicht unterschätzen 😉 Aber natürlich hast du mit dem Einwand recht! Danke für das Feedback!
Dein Text ist eine legitime Polemik, allein es fehlt an Argumenten.
Es geht ja konkret um die 1:1 Ausstsattung in der Grundschule, nicht um Digitalisierung irgendwie in irgendwelchen Klassenstufen. DAS ist der Diskurs, um den es geht.
Ich lese bei dir kein tragfähiges Argument, was dafür spricht.
Abschnitt „Allumfassende Digitalisierung – was soll das überhaupt sein?“ -> Strohmann
Abschnitt „89% der Lehrkräfte sind gegen zu viel Digitalisierung”
-> Idee der Umkehrung (10% Radikaldigitalisierer) = Strohmann
„Alle S haben privat ein Handy. Das ist ein Fakt.“ ->
Das allein ist kein Argument für irgend etwas. Auch wenn die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler rauchen würde, bliebe es falsch, Raucherecken auf dem Schulhof einzurichten. Die Kinder im privaten Umfeld damit nicht „allein zu lassen“, ist in erster Linie Aufgabe der Eltern. Denen fällt man im Übrigen in den Rücken, wenn die Nutzung in der Schule verpflichtend ist bzw. erwartet wird, aber Tablets eben daheim eher tabu sind.
Moderne Endgeräte mit dem Taschenrechner als Werkzeug zu vergleichen, zeugt davon, dass die völlig andere Qualität der Geräte nicht erfasst wurde. Ebenso das, was hier lapidar als „Ablenkung“ bezeichnet wird.
Hier wirken ganz andere Kräfte. Hier ist das sehr gut auf den Punkt gebracht:
https://www.honest-broker.com/p/the-state-of-the-culture-2024
Keine Tablets als 1:1 Ausstattung in der Grundschule heißt, den Kindern gegenüber Verantwortung zu übernehmen.
Der Strohmann-Vorwurf geht imho ins Leere, weil ich bei jedem genannten Punkt gegen Ende die Übertreibung kennzeichne und als solche relativiere. Der Raucher-Vergleich ist unsäglich und disqualifiziert sich selbst!
Inhaltlich scheinst du zwei Sachen komplett zu übersehen:
1. geht es im ursprünglichen Text nicht hauptsächlich um 1:1-Szenarios.
2. Allgemeinbildung hat als Gegenstand immer die Lebenswelt der Kinder und jugendlichen Menschen. Das gilt besonders für ein so omnipräsentes Gerät wie Smartphones oder Tablets, insbesondere dann, wenn die Alternative das schulische Ignorieren/Ausgrenzen ist!
Dennoch Danke für deine Anmerkungen!