Digitalisierung als Klotz am Bein in der Schule? Ein Blick in den Alltag

Von | 3. Juli 2023

Vorbemerkung

Ursächlich für diesen Post ist ein Spiegel-Artikel, der hier thematisiert wurde: https://twitter.com/bildungdigital2/status/1674323959460818945
Im folgenden möchte ich einen Abriss aus meiner Praxis liefern und mich auf Ursachensuche begeben, freilich unter der Voraussetzung, dass ich weder über andere Schularten noch über andere Bundesländer schreiben kann. Dennoch versuche ich, das Ganze möglichst fundiert und allgemein anwendbar zu halten.

Offene Baustellen und die idealen Alibis

Die zentrale Frage in dem Kontext ist sicher die nach den Ursachen: Warum empfinden über die Hälfte der Befragten die Digitalisierung als Belastung? Die Ursachen sind extrem vielfältig und in der im Artikel vermittelten Art und Weise aufgrund der Vermischung noch schwieriger auszumachen. Dennoch versuche ich im Folgenden ein paar gravierende Punkte anzusprechen.

Technik und Infrastruktur

Es spricht nicht für die politisch Verantwortlichen, wenn es auch 12 (!!!) Jahre nach dem 6. Nationalen IT-Gipfel in München, auf dem unter anderem das Klassenzimmer 3.0 einen zentralen Platz einnahm, noch immer die gleichen Themen diskutiert werden und vielerorts ungeklärt sind: Es gibt vielfach gar keine professionellen IT-Admins und wenn es sie gibt, können sie aus diversen Gründen (zu) häufig die Erwartungen nicht erfüllen. Stattdessen sind es Pädagogen, die an vielen Schulen – so auch an unserer – den „Laden am Laufen halten“ und sich mit einem sehr komplexen (Netzwerk-)Szenario auseinandersetzen müssen.
Im zweiten Schritt schlägt das natürlich auf die Endanwender durch: Lehrkräfte und Schülerschaft müssen auf eine Infrastruktur zugreifen, die (zu?) oft keinem professionellen Anspruch standhält und sich als entsprechend fehlerbehaftet erweist.
Wenn eine Lehrkraft voll motiviert eine moderne, den aktuellen Anforderungen entsprechende Unterrichtseinheit konzipiert, diese aber dann nicht realisieren kann, weil kurzfristig mangels WLAN-Verfügbarkeit kein Internet zur Verfügung steht, dann ist dies nur ein – sehr nachvollziehbarerer – Fall von Frustration, die in Unzufriedenheit mündet und damit die Zahlen im Artikel erklärt.
Freilich ist das Ganze wie so oft nicht ganz so einfach zu lösen: IT-Fachkräfte sind ohnehin schwer zu finden. Beinahe unmöglich wird es, wenn man Spitzenleute gewinnen will, diese dann aber eventuell nach TVL 9 bezahlen will. Auch Dinge wie SLAs spielen eine Rolle, sollen aber hier nicht weiter thematisiert werden, weil das zu nerdig und auch zu ausufernd wäre 😉

Der rechtliche Rahmen und die unendliche Geschichte

Wenn man im schulischen Umfeld das Thema „Digitale Transformation“ aufgreift, landet man innerhalb kürzester Zeit bei den juristischen Fragen, vor denen sicher die allermeisten am liebsten wegducken – und dies völlig zurecht und nachvollziehbarerweise:
– Datenschutz
– Arbeitsrecht
– Brandschutz
– Schul-/Dienstrecht

Ich erspare uns allen eine detaillierte Ausführung der einzelnen Punkte, weil diese jeden Rahmen sprengen würde. Stattdessen zwei einfache Beispiele, die die Absurdität des ganzen Unterfangens nachvollziehbar machen sollen:

1. Szenario:
Nach Art 15 DSGVO hat jeder das Recht, die über ihn gespeicherten Daten z.B. in elektronischer Form zu erhalten. Das gilt selbstverständlich auch für Schülerinnen und Schüler. Mir ist keine einzige im schulischen Umfeld gängige Software bekannt, die eine entsprechende Schnittstelle aufweist. Die Folgen sind in einem entsprechenden Fall dramatisch. Oder wie es ein IT-Experte einmal auf einer Tagung treffend formuliert hat:

Eine Schule komplett lahm zu legen, ist ein Leichtes, wenn ich Artikel 15 zur Anwendung bringe. Nicht einmal die Amtliche Schulverwaltung bietet dafür eine Lösung. Von der Vielzahl der im Schulalltag an einer modernen Schule eingesetzten Software spreche ich gar nicht erst.

Auch wenn man „perfekt“ datenschutzkonform aufgestellt ist, dürfte es schwierig sein, alle Produkte eines Schülers oder einer Schülerin z.B. aus Taskcards oder aus Moodle/mebis/ByCS komplett zu exportieren (siehe z.B. hier). Und selbst wenn es möglich ist, dürfte der Aufwand mindestens beträchtlich sein!

2. Szenario:
Ein Lehrer berührt versehentlich das Tablet eines Schülers und dieses fällt auf den Boden. Dadurch wird es beschädigt und eine Reparatur wird fällig.
Nach aktueller Auskunft unseres Juristen bei der Regierung handelt es sich zwar eindeutig um einen von der Lehrkraft nicht grob fahrlässig verursachten Schaden. Allerdings sieht die entsprechende Versicherung keine solchen Fälle von Haftung vor, da diese aus einer Zeit stammt, die solche Geräte noch nicht kannte und eigentlich dazu abgeschlossen wurde, z.B. durch Lehrkräfte beschädigte Brillen oder andere Gegenstände zu ersetzen. Oder um einen Ansprechpartner direkt zu zitieren.

Uns wäre es am liebsten, wenn so teure Gegenstände gar nicht in der Schule verwendet würden. Diese sind nämlich nicht Teil des Versicherungsschutzes und noch nicht eingepreist. Hier müssen wir auf Kulanz hoffen!

Ob das flächendeckend tatsächlich so ist, vermag ich nicht zu sagen. Aber es liefert eine weitere Erklärung für die Zahlen aus dem Spiegel-Artikel und zeigt eine absurde Seite des Schulalltags.

Die Konsequenz fehlt auch im pädagogischen Bereich

Neben den genannten Faktoren erscheint die „schulische Digitalisierung“ jedoch noch unter einem anderen Aspekt als schwierig: Selbst wenn man davon ausgeht, dass eine Schule in ihrer Gesamtheit komplett digitalisiert wurde, sind die „Mehrwerte“ dieser Entwicklung für die Lehrkräfte nur schwer fassbar.
Sicher, es ist viel mehr möglich, es wird u: U. besser, effizienter, … gelernt, jedoch wird es unter den aktuellen Rahmenbedingungen sehr schwer, dieses Plus für die „Allgemeinheit“ sichtbar zu machen. Stichwort: Prüfungskultur und Transformation des Unterrichts. Es macht schlicht keinen Sinn, mit massivem Aufwand Technik im Unterricht zu integrieren, wenn diese dann in den entscheidenden Prüfungen nicht zugelassen ist. Auch wird gegenwärtig die Lehrkraft massiv benachteiligt, die sich – mit privatem Aufwand – engagiert und den aktuellsten Stand der Entwicklung im Unterricht zur Anwendung bringen wird.
Dabei spreche ich noch gar nicht von professioneller Unterstützung im technischen oder pädagogischen Bereich. Dass man in Bayern ein Mega-Projekt wie „Digitale Schule der Zukunft“ ohne eine einzige zusätzliche Stunde für eine normale Projektschule durchführt, spricht für sich und erklärt exemplarisch sehr einfach, wie sich die Zahlen aus dem Spiegel-Artikel erklären lassen.

Fazit

Solange es für die Betroffenen in den Schulen wesentlich einfacher ist, auf sämtliche aktuellen Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung mit Passivität zu reagieren. sind die beschriebenen Zahlen keine Überraschung. Oder wie es jemand von höherer Stelle ganz offen – aber natürlich inoffiziell 😉 – formuliert hat:

Die sicherste Methode, wie man die ganzen Probleme der schulischen Digitalisierung lösen kann, ist, komplett darauf zu verzichten!

Insofern ist die Botschaft des Spiegel-Artikels alles andere als überraschend.
Dass das nicht der Anspruch einer verantwortungsvollen Bildung für unsere Kinder sein kann, muss nicht weiter ausgeführt werden. 😉