Ein Monat im neuen Schuljahr: ein Reflexionsversuch

Von | 15. Oktober 2021

Knapp einen Monat ist das Schuljahr alt, knapp 4 Wochen konnte man Erfahrungen und Einblicke gewinnen, wie die Situation nach nunmehr etwa 19 Monaten Corona-Pandemie sich darstellt.

Dabei liegt es mir fern, eine end- oder gar allgemeingültige Diagnose zu stellen, zu pauschalisieren oder mich zu profilieren. Ich schildere im Folgenden schlicht Erfahrungen von mir direkt oder aus meinem Umfeld, die ich weniger wertend (manchmal lässt sich eine solche einfach nicht vermeiden – aber dann sind es eher Eindrücke, denn eine feste Meinung), als eher beschreibend verstanden wissen möchte und die ich bewusst nicht näher ausführe, weil mir dazu schlicht die Datenbasis fehlt.

Wichtig ist mir auch: Das Beschriebene basiert nicht ausschließlich aus beruflichen Erfahrungen, sondern auf solchen, die man als Familienvater mit schulpflichtigen Kindern in diesen Zeiten “einfach macht”.

These 1: “Distanzunterricht ist nicht effektiv”

Dass es für Kinder einfacher ist, die Videokonferenz zu beenden oder sich anderweitig zu beschäftigen, ist weder besonders neu noch großartig beweisbedürftig. Doch auch andere Methoden fernab des Videocalls scheinen die Kompetenzen bei Kindern in Bezug auf das aktuell im Schulalltag gefragte nicht gesteigert zu haben. Ist dies tatsächlich in der Fläche der Fall oder nur ein punktueller Eindruck? Womit zur nächsten These übergeleitet wird …

These 2: “Kompetenzen aus dem Distanzunterricht kommen aktuell nicht zum Tragen”

Ein gelungenes Erklärvideo zum Addieren von Brüchen, eine selbst erstellte Webseite zum Thema “Menschenrechte”, eine Kollage zu den Weltreligionen, ein Podcast zum Thema “Sterbehilfe” … alles zum Teil sehr beeindruckende, gelungene Ausdrücke vom Leistungsvermögen unserer Schülerinnen und Schüler – aber bei den Jahrgangsstufentests und weiteren Leistungserhebungen des aktuellen Schulalltags sind die Ergebnisse zum Teil ernüchternd und zeigen, dass die Kompetenzen einerseits, die Testbedingungen andererseits anscheinend nicht zueinander passen.

These 3: “Der soziale Aspekt von Schule wurde dramatisch unterschätzt.”

Der Distanzunterricht an unserer Schule – und das ist durch verschiedene externe Faktoren nachgewiesen – war von hoher Qualität: Keine Videokonferenz.Orgien, stattdessen selbstbestimmtes Lernen, Projektarbeit, “Vom Konsumenten zum Produzent”-basierter Unterricht … ein Blick in unseren Jahresbericht (Zitat eines Kollegen aus einer anderen Schule) “erweckt den Eindruck, man würde einen Prospekt “Möglichkeiten des digitalen” Unterrichts” in Händen halten.

Was klingt wie das “Sich-selbst-auf-die-Schulter-Klopfen” eines narzisstischen Pädagogen, soll genau das Gegenteil sein: Denn der vermeintliche Narzisst stellt fest: Es fehlte etwas – und das kann nicht nur das letzte Teil eines komplexen Puzzles sein, sondern es fehlen jene Stücke, die dem Gesamtwerk seinen Charakter und seine Seele geben: Das Sinnliche, das Menschliche, das Liebenswerte – das soziale Erleben.

Aber man könnte wahrscheinlich auch anders herum fragen:

Vielleicht haben wir alle noch nicht gelernt, sozial zu sein, wenn die physische Anwesenheit fehlt…??? (Zitat @DerLinkshaender

These 4: “Es mangelt mitunter an Professionalität in vielen Bereichen”

Wenn Lehrerinnen und Lehrer vergessen, was ihre Profession ist, wofür sie bezahlt werden, wem sie verpflichtet sind, dann hat die Gesellschaft ein Problem. Glücklicherweise kenne ich eine übergroße Mehrheit an Kolleginnen und Kollegen, die sich diesen Vorwurf nicht gefallen lassen müssen, ja, bei denen dieser Vorwurf sogar völlig deplatziert ist. Aber es gibt eben auch jene, die der Vorwurf treffen muss: Wochenlang kein Kontakt zu Schülerinnen und Schülern, kein bis wenig Einsatz in Zeiten der Notlage, Rückzug in die eigenen Wände, Verharren in alten Mustern, die längst nicht mehr greifen … Ähnliches soll angeblich auch auf Vorgesetzte hin und wieder zutreffen, die in AdHoc-Schreiben kurzfristige Termine “kommunizieren”, die Schulen sich genau dann selbst überlassen, wenn es gerade nicht anzuraten ist oder in “Biedermann-und-die-Brandstifter”-Manier sich nur um ihren bürokratischen Kleingarten kümmern. Und noch einen Aspekt gilt es hier zu anzusprechen: Die Schere, die man so oft bei Arm und Reich, Nord und Süd, Weiß und Schwarz und an viel zu vielen anderen Stellen (zurecht) beklagt: Sie geht auch bei den Lehrkräften immer weiter auseinander und sorgt dafür, dass Abgehängte frustriert und Early-Adopters desillusioniert zurückbleiben und sich beide als Verlierer fühlen.

These 5; “Die Pandemie soll instrumentalisiert werden, um alte Phantasien/politische Ziele/Umstrukturierungen zu forcieren und endlich umzusetzen”

Das System scheint darniederzuliegen und die Schlauberger haben schnell eine Lösung parat: Lehrer besser bezahlen, Entlastungen und mehr Personal, Abschaffung von wahlweise Noten/Schulformen/Schularten/Leistungserhebungen/Beamtentum/… die Liste ließe sich beinahe beliebig fortführen. All diesen – mitunter berechtigten – Forderungen ist allerdings eines gemein: Sie helfen in der Kurzfristigkeit der Situation nicht weiter. Die uns anvertrauten Kinder müssen JETZT die Versäumnisse und Defizite beheben – und deren Beseitigung wird nicht dadurch initiiert, dass eine Lehrkraft höher besoldet wird oder das Kind von mehreren Pädagogen beschult wird, die kurzfristig einfach nicht verfügbar sind.

These 6: “Manche glauben tatsächlich: Wir bieten mehr Unterricht an und schon können wir die Lücken schließen!”

Diese Erkenntnis ist jene, die mich inzwischen am meisten nervt: Es kann eben nicht darum gehen, in zusätzlichen Stunden den Lehrplan minutiös umzusetzen. Es hat in verschiedenen Schulen nicht funktioniert, in den Sommerferien mit zusätzlichen Stunden Versäumtes effektiv nachzuholen. Denn was Skeptiker bereits ahnten, sollte sich bewahrheiten: Versäumter Stoff mag ein Problem sein, doch als das erheblich größere erwies sich, dass die Schülerinnen und Schüler immer öfter das Lernen verlernt haben. Sich über einen längeren Zeitraum in einem sozialen Gefüge zu bewegen, motiviert, konzentriert kreativ und produktiv zu arbeiten, war in Pandemie-Zeiten nicht oder anders gefragt. Hierauf brauchen wir eine Antwort – und nicht auf die Frage, wie wir am effizientesten den Lehrplan umsetzen.

Conclusio

Nein, auf eine solche verzichte ich – nicht etwa, weil ich keine Lust dazu hätte, sondern weil ich meine Grenzen kenne und eine solche schlicht nicht konkretisieren kann. Was aber möglich ist: Wege hin zu Lösungen aufzuzeigen…

Der Weg zu einer besseren Schule führt – und es tut mir fast schon leid, für derartig Banales den großartigen Hattie zitieren zu müssen – ganz einfach  und ohne Selbstüberschätzung über die Lehrpersonen: Sie sind es, die den Schlüssel zu einer besseren Bildung in der Hand halten. Denn bereits im bestehenden und in Vielem zurecht kritisierten System gibt es zahlreiche Möglichkeiten, Kindern und Jugendlichen gute Bildung angedeihen zu lassen. Man muss es nur wollen! Dass es von oben Unterstützung braucht und es ohne diese ungleich schwerer fallen dürfte, seiner “Profession” als Lehrer gerecht zu werden ist bestenfalls trivial. Aber es ist die Zeit, etwas zu unternehmen, anzupacken und Dinge umzusetzen. Lamentierer und Leute, die neunmalklug Forderungen aufstellen, ohne selbst Verantwortung zu übernehmen gibt es genug. Oder wie es Erich Kästner auf seinen unnnachahmlichen Punkt brachte:

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!